Die von Ernst Jandl erfundenen visuellen Lippengedichte entstehen beim Verlassen der Luft durch den Mund des Rezitators. Eigentlich kommt es dabei aber überhaupt nicht auf die Luft an. Visuelle Lippengedichte heißen LIPPENgedichte, weil die Lippen resp. der Rezitator, so Jandl, das Papier ist, auf das die Gedichte geschrieben werden. Beim Aufsagen sind die Gedichte nicht zu hören. Sie sind völlig lautlos, aber zu sehen: Sie werden mit den Lippen in die Luft geschrieben. Jandl: ... der ungeübte Leser spricht das visuelle Lippengedicht vor dem Spiegel. Beim geübten Leser genügt die Bewegung des Mundes, um den visuellen Eindruck des Gedichtes entstehen zu lassen. Für den Rezitator bleibt das Gedicht aus meiner Sicht ein Gefühl. Und zwar ein durchaus (haften) Bleibendes. Das Gefühl der Muskelnerven beim Artikulieren der Buchstaben und Worte. Lyrik und Emotion liegen bekanntlich nah beieinander. Aber so körperlich wie bei Lippengedichten niemals sonst. Also: Sagen Sie die folgenden Gedichte ganz laut auf aber verlieren Sie dabei kein Wörtchen. Kein Ton darf zu hören sein, dann machen Sie alles richtig.
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